Am 26. Februar 2013 hat der Nationale AIDS-Beirat folgendes Votum beschlossen:

„Die HIV-Infektion ist heute eine gut behandelbare chronische Erkrankung. In
Deutschland ist die Lebenserwartung bei angemessener medizinischer Versorgung annähernd normal. Menschen mit HIV erfahren jedoch nach wie vor Einschränkungen vor allem im sozialen Alltag. Sie werden nicht selten sowohl in der Arbeitswelt als auch im privaten Umfeld stigmatisiert und diskriminiert. Auch strafgerichtliche Urteile und deren öffentliche Wahrnehmung spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle.

  1. Der Nationale AIDS-Beirat weist für die strafrechtliche Bewertung auf folgende medizinische Gesichtspunkte hin:

    HIV ist im Vergleich zu anderen sexuell übertragbaren Krankheiten eine schwer übertragbare Infektion. Die Übertragbarkeit von HIV hängt in erster Linie von der Virusmenge (medizinisch: Viruslast) ab. Sie ist in den ersten Wochen nach der Infektion besonders hoch und kann bei mehreren Millionen Viruskopien pro Milliliter Blut liegen. Das Immunsystem schafft es jedoch in der Regel nach einigen Wochen bis Monaten, die Infektion zu kontrollieren. Die Viruslast fällt dann ab und kann über Monate bis Jahre vom Körper niedrig gehalten werden, ohne dass Medikamente eingenommen werden müssen. In dieser Zeit ist die Ansteckungsgefahr deutlich geringer als in der frühen Phase der Infektion. Wird das Immunsystem schwächer, wird in der Regel mit einer antiretroviralen Therapie begonnen. Bei wirksamer Therapie fällt die Viruslast bis unter die Nachweisgrenze ab (Viruslast kleiner als 50 Viruskopien/ml Blut). Wenn die Virusvermehrung dauerhaft vollständig unterdrückt ist, wird HIV nach derzeitigem medizinischen Erkenntnisstand nicht mehr sexuell übertragen. Die Risikoreduktion einer erfolgreichen antiretroviralen Therapie entspricht mindestens der sachgerechten Anwendung eines Kondoms.

Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der HIV-Übertragungen in der frühen Phase einer HIV-Infektion erfolgt, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Betroffenen in der Regel nicht von ihrer Infektion wissen und auch gar nicht wissen können, da ein HIV-Antikörpertest erst nach einigen Wochen eine erfolgte Infektion nachweisen kann.

  1. Vor diesem Hintergrund betont der Nationale AIDS-Beirat:

  2. Grundlage einer strafrechtlichen Bewertung einer HIV-Infektion im Zusammenhang mit einvernehmlichem Sexualverkehr ist eine angemessene Würdigung der medizinischen Fakten.

    Es kann nicht schematisch beurteilt werden, ob einem bzw. einer HIV-Infizierten strafrechtlich die Verantwortung für die erfolgte Weitergabe der Infektion zugewiesen werden kann. Entscheidend sind vielmehr die Umstände des jeweiligen Einzelfalls und dabei insbesondere die berechtigten Erwartungen beider Sexualpartner.

    Jedenfalls in einer flüchtigen, einvernehmlichen sexuellen Begegnung ist jeder und jede verantwortlich für die Anwendung von Schutzmaßnahmen, unabhängig von der Kenntnis oder der Annahme des eigenen Status und des Status der anderen Person. Eine Zuschreibung als Täter oder Opfer ist dabei nicht angemessen.

    Strafverfahren bezüglich der HIV-Übertragung bei einvernehmlichem Sexualverkehr leisten keinen Beitrag zur HIV-Prävention. Sie können sich sogar kontraproduktiv auf die HIV-Testbereitschaft und die offene Kommunikation von Sexualpartnern auswirken. Demgegenüber liegt es im Interesse des Einzelnen und der Gesellschaft, die HIV-Testbereitschaft zu erhöhen.“

Der Nationale AIDS-Beirat ist ein unabhängiges Beratungsgremium des Bundesministeriums für Gesundheit. Er ist interdisziplinär mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen Forschung, medizinische Versorgung, öffentlicher Gesundheitsdienst, Ethik, Recht, Sozialwissenschaften, sowie Personen aus der Zivilgesellschaft zusammengesetzt.
Weitere Hinweise zum Nationalen AIDS-Beirat finden Sie unter http://www.bmg.bund.de/praevention/nationaler-aids-beirat/nationaler-aidsbeirat.html.