Stellungnahme der Deutschen AIDS-Gesellschaft e.V. zum Gesetzentwurf des vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt, Zwangstests auf HIV, Hepatitis B und C

Die Deutsche AIDS-Gesellschaft lehnt den o. g. Gesetzentwurf aus folgenden Gründen als nicht sachdienlich, unangemessen und rückschrittlich ab.

1. Eine allgemeine oder zunehmende Gefährdung oder durch HIV, Hepatitis B oder C besteht nicht

In der Grundannahme des Gesetzentwurfs wird irrtümlich von einer allgemeinen Gefährdung von Rettungssanitätern und Polizisten durch HIV-Infizierte ausgegangen. Dies ist falsch, da nur in seltenen Situationen (z. B. unbehandelter Patient mit hoher Viruslast UND tatsächliche, penetrierende Verletzung einer anderen Person mit Blut eines HIV-Infizierten) überhaupt ein nennenswertes Risiko besteht. Praktisch alle anderen Formen von Kontakten mit Körpersekreten HIV-Infizierter stellen kein Risiko dar.

Durch die Gesetzesänderung soll, wie in der Erläuterung zur Gesetzesvorlage auf Seite 52 beschrieben, der „Schutz von Personen verbessert werden, die einer besonderen Infektionsgefahr ausgesetzt waren“. Der Schutz soll durch eine verbesserte Informations-situation (ggf. Zwangstestung der Indexperson) als Basis für die Entscheidung für oder gegen eine postexpositionelle Prophylaxe (PEP) gegen z. B. HIV-1 erreicht werden.

Diese Begründung lässt den Schluss zu, dass zwei Szenarien Anstoß für diese Gesetzesänderung und Notwendigkeit für eine Verbesserung gegeben haben könnten. Entweder wurden in der Vergangenheit in Sachsen-Anhalt Personen gefährdet, weil ihnen nach möglicher beruflicher Exposition aufgrund fehlender Informationen der Indexperson keine HIV-PEP angeboten oder angeraten wurde. Dieses Szenario halten wir unter Berücksichtigung der aktuellen deutsch-österreichischen Empfehlungen zur PEP[1], die seit Jahren zugänglich sind und nach denen bundesweit praktiziert wird, für unwahrscheinlich und vertrauen darauf, dass es nicht eintreten wird.

Alternativ liegen den Behörden in Sachsen-Anhalt Hinweise vor, wonach Personen nach möglicher beruflicher Exposition zu häufig eine HIV-PEP erhielten und deshalb durch unangebrachte Medikamentennebenwirkungen gefährdet waren. In diesem Fall kann die Vermeidung von in der Regel nicht lebensbedrohlichen Medikamentennebenwirkungen aber nicht die Rechtfertigung für die damit eindeutig unverhältnismäßige erzwungene HIV-Testung sein.

2. Das Transmissionsrisiko wird durch den HIV-Serostatus nur unzureichend erfasst

Ein positiver serologischer Test für HIV, Hepatitis B oder Hepatitis C  trägt nur sehr unvollständig zu einer Einschätzung eines Transmissionsrisikos bei. Das Testergebnis sagt lediglich etwas über den Serostatus, gibt aber keine verlässliche Informationen über das Infektionsrisiko. Dazu sind weitere medizinische Angaben zu einer antiretroviralen Therapie und ggf. eine HI-Viruslastbestimmung zu heranzuziehen. Das Beratungsgespräch für eine HIV-PEP beruht immer auf einer individuellen Risiko-Nutzen Abwägung. Die DAIG empfiehlt, dass Polizisten und Rettungspersonal daher unverzüglich durch Mediziner mit spezieller Erfahrung auf diesem Gebiet beraten werden sollten, um die Qualität dieser Versorgung zu optimieren und Verunsicherungen zu vermeiden.

3. Der Serostatus der Indexperson ist für die HIV-PEP Beratung nicht essentiell

Der Gesetzestext führt aus, dass die Kenntnis des körperlichen Untersuchungsergebnisses (hier HIV, HCV oder HBV Infektion) zur Abwehr der Gefahr erforderlich ist und damit der Zwangstest gerechtfertigt wird. Diese Annahme ist falsch und entspricht nicht den aktuellen deutsch-österreichischen Empfehlungen zur PEP der HIV-Infektion1. Die Kenntnis des Serostatus einer Indexperson ist für die Risikoabschätzung einer Übertragung, die Beratung und ggf. Einleitung einer HIV-PEP zwar bedeutend, nicht aber entscheidend. Die Empfehlungen zur HIV-PEP setzen für die Beratung und Durchführung einer medikamentösen PEP kein serologisches HIV-Testergebnis der Indexperson voraus und betonen die freiwillige Zustimmung der Indexperson zur HIV-Testung1. Voraussetzung für die Durchführung einer HIV-PEP ist jedoch die Zustimmung der exponierten Person zu einem HIV-Test1. Nur diese entscheidet frei und nach Beratung, ob sie die für diese Indikation nicht zugelassenen antiretroviralen Medikamente („off label“) einnehmen möchte.

Die Formulierung der Gesetzesvorlage und Kommentare deutet hier auf einen mangelndem Sachverstand und wenig praktische Erfahrungen. Beides kann in relevanten Risiko-situationen zu einer fahrlässigen Verzögerung sinnvoller Maßnahmen zur Verhinderung der Transmission von HIV beitragen, wenn diese vom Vorliegen eines Zwangstestergebnisses abhängig gemacht werden.

4. Der Gesetzestext führt unweigerlich zu diskriminierenden Zwangstestungen von Minderheiten

Die  Seroprävalenz von HIV-1 in der deutschen Bevölkerung liegt bei unter 0,1%. Bei einer generellen Testung würden 99,9% der Betroffenen einer unnötigen Testung unterworfen. Es ist daher zu erwarten, dass bestimmte Gruppen aufgrund willkürlicher Interpretation äußerlicher Merkmale wie z. B. Hautfarbe oder anderen Präferenzen ohne Einverständnis getestet werden. Dies ist als Diskriminierung abzulehnen.

Der HIV-Status eines Menschen ist nicht an offensichtlichen „Tatsachen“ erkennbar. Der Gesetzestext würde zulassen, dass z. B. sexuelle Verhaltensweisen oder eine nicht-deutsche Staatsbürgerschaft einer Person die Annahme rechtfertigen, dass von ihr eine Gefahr für Leib oder Leben einer anderen Person ausgeht. Selbst Unfallopfer werden im erläuternden Text erwähnt. Der Hinweis darauf, dass z. B. eine HIV-Infektion angenommen werden kann, „wenn bestimmte Umstände eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit begründen“, ist völlig unpräzise und unpraktikabel. Es bleibt offen, wie und durch wen solche Tatsachen erhoben werden. Zudem ist zu befürchten, dass Aussagen einer Person, nicht mit Hepatitis C oder HIV infiziert zu sein, gegenüber eventuellen „Tatsachen“ als unglaubwürdig eingeschätzt werden und als Folge Zwangstestungen veranlasst werden. Schließlich droht z. B. bewusstlosen Unfallopfern eine Zwangstestung, da „Tatsachen“ auf ein sexuelles Risikoverhalten hinweisen könnten oder das Unfallopfer lediglich ausländischer Herkunft ist oder erscheint.

5. Ein HIV-1 Test erfordert eine sachgerechte Aufklärung der zu testenden Person

Der erläuternde Text zur Gesetzesvorlage besagt, dass körperliche Eingriffe nur vor-genommen werden dürfen, wenn kein Nachteil für die Gesundheit der zu untersuchenden Person zu befürchten ist. Es wird jedoch nur der Eingriff der Blutentnahme berücksichtigt. Ein positiver HIV-Test verändert das Leben eines Menschen aber nachhaltig. Die Beratung vor und nach einem HIV-Test über die Konsequenzen und Optionen eines positiven und negativen Testergebnisses ist generell empfohlen, medizinisch sinnvoll und ethisch geboten. Betroffene haben im Rahmen des informationellen Selbstbestimmungsrechts ein Recht auf Wissen und Nichtwissen über das Ergebnis[2]. Eine Einschränkung dieses Grundrechts ist nur hinnehmbar, wenn reale, eindeutige und unmittelbare Gefahren für andere Personen abgewendet werden müssen und keine Alternative besteht.

Die Formulierung des Gesetzentwurfs bietet den Behörden diesbezüglich jedoch einen Freibrief für eine ausufernde Anwendung einer „Gefährdungs“annahme. Zudem steht ausschließlich die Indexperson im Mittelpunkt. Die HIV-PEP-Beratungen der vergangenen Jahre zeigen jedoch, dass in der HIV-Therapie erfahrene Spezialisten eine objektivere Einschätzung des in der Regel von Laien als viel zu hoch geschätzten Transmissionsrisikos gelingt. Die Qualität der Beratung zur HIV-PEP ist nach unserer Ansicht die Basis für eine medizinisch sachgerechte und leitliniengerechte Betreuung von eventuell gegenüber HIV-1 exponierten Personen.

6. Eine Zwangstestung auf Hepatitis B oder Hepatitis C ist medizinisch unsinnig

Die Infektiosität von Patienten mit einer Hepatitis B ist nur durch differenzierte serologische Tests und medizinische Expertise zu beurteilen. Nicht die Hepatitis B Testung, sondern die vorherige Impfung von Sanitätern und Polizeibeamten, stellt eine wirksame Prophylaxe dar, mit der diese sich von sich aus vor einem Kontakt aktiv schützen können. Darüber hinaus bietet die passive Immunisierung gegen Hepatitis B in den seltenen Fällen einer möglichen Exposition einen Schutz. Eine Einschränkung des Grundrechtes auf informationelle Selbst-bestimmung lässt sich also in diesem Fall leicht vermeiden und ist nicht gerechtfertigt.

Ein Schutz vor Hepatitis C ist durch den Test einer potenziell infizierten Person nicht zu erreichen, da keine prophylaktische Therapie oder Impfung zur Verfügung steht. Die Einbeziehung von Hepatitis C ist daher medizinisch unsinnig und rechtfertigt keine Grundrechtseinschränkung. Eine ggfs. erforderliche Wiederholung der serologischen Kontrollen der HCV-exponierten Personen stellt für diese keine Gesundheitsgefährdung dar und rechtfertigt keine Zwangstestung.

Der Gesetzentwurf stellt aus Sicht der Deutschen AIDS-Gesellschaft einen Rückschritt bei der Bekämpfung irrationaler Ängste im Umgang mit Menschen mit chronischen, viralen Infektionskrankheiten dar. Er ist im Kern von diffusen Befürchtungen und nicht sachgerechten Annahmen gekennzeichnet, die angesichts der gesellschaftlichen Normalität des Zusammenlebens mit Menschen mit HIV der Vergangenheit angehören sollten.

Die Deutsche AIDS-Gesellschaft steht als Ansprechpartner für Fragen der Transmissions-prophylaxe der HIV-Infektion zur Verfügung. Die deutsch-österreichischen Empfehlungen zur postexpositionellen Prophylaxe der HIV-Infektion sind in ihrer gültigen Version (Stand 2008) auf der Homepage der DAIG abrufbar (http://www.daignet.de/site-content/hiv-therapie/leitlinien-1) und werden derzeit von einem Expertenteam aktualisiert.

Die Deutsche AIDS-Gesellschaft empfiehlt dem Landtag von Sachsen-Anhalt, den Gesetzentwurf abzulehnen.



[1] Deutsch-österreichische Empfehlungen zur postexpositionellen Prophylaxe der HIV-Infektion (Stand 2008). Als pdf zugänglich über die Homepage der DAIG (http://www.daignet.de/site-content/hiv-therapie/leitlinien-1)

[2] Schmidt ER, Rockstroh J, Marcus U. HIV-Diagnostik: Zu wenige Tests bei Risikopersonen. Dtsch Arztebl 2010; 107(16): A-750 / B-654 / C-642; Expertenworkshop zur HIV-Testung in Hannover, 22.10.2009, pdf verfügbar unter: http://www.daigonline.de/site-content/news-und-presse/newsmeldungen/newsarchiv/expertenworkshop-zur-hiv2010testung-hannover-22-10.2009